Das Leuchten beginnt

Am Morgen des 6. Mai verabschiede ich meine Eltern am Flughafen. Es ist wieder sehr emotional, aber ich beschwichtige sie, es seien diesmal ja nur sechs Wochen und nicht sechs Monate. Um 10.40 Uhr startet mein Flieger und ich starte gedanklich in ein neues Abenteuer. Toulouse heißt der erste Stopp meiner Reise. Nachdem ich gut gelandet bin, nehme ich ein Shuttle zum Bahnhof Matabiau, von dem es nun mit Zug weitergehen soll. Ich betrete die große Empfangshalle und suche meine Verbindung auf der Anzeigetafel. Verwundert gehe ich in die nächste Halle, doch auch dort ist meine Bahnverbindung nicht ausgeschrieben. Panik steigt in mir auf und ich laufe zich mal hin und her um mich zu vergewissern, dass ich auch richtig geschaut habe. Durch das Gewicht meines Rucksacks bin ich bereits jetzt schweißgebadet und eine zweifelnde Stimme in meinem Hinterkopf schaltet sich ein: „Na, wie willst du unsportliches Ding es eigentlich über die Pyrenäen schaffen, wenn dir ein 500 Meter Marsch durch den Bahnhof schon die Puste ausgehen lässt? Achja und dieser Rucksack ist ein Monster, merkst du nicht, dass du dich total übernimmst?“ 

Ich lasse den Blick auf meine Wanderschuhe sinken und erhoffe mir etwas moralische Unterstützung, doch die Füße scheinen sich ihrer Sache wohl auch noch nicht so ganz sicher zu sein. Ich schnaufe und lasse die Stimme verstummen, in dem ich alle Zweifel beiseite schiebe:„Ach sei bloß still, du hast doch keine Ahnung!“ 

Als ich beim nur begrenzt englischsprechenden Bahnhofspersonal  erfahre, dass mein Zug aufgrund von Streik ausfällt und ich eine Nacht in Toulouse verbringen soll, bin ich mit den Nerven endgültig am Ende. „Na toll, das ist ja ein gutes Omen für meine Wanderung, wenn bei der Anreise schon alles schief geht, so ein Mist“, denke ich mir, besinne mich jedoch sogleich auf meine in Tansania erworbene Gelassenheit zurück. „Es gibt für alles eine Lösung, entspann dich, es ist kein Weltuntergang.“  Also bitte ich meinen Bahnangestellten darum mir zumindest bei der Hostelsuche zu helfen, da ich mich ja nicht auskenne. Da schaut er überrascht von seinem Bildschirm auf und teilt mir mit dass er eine neue Zugverbindung gefunden habe und ich sofort los müsse. Als Entschuldigung für die Umstände werde ich noch in die erste Klasse umgebucht. „Nicht schlecht“, denke ich schmunzelnd und bin froh über die Wendung der Ereignisse.

Nach einer langen Zugfahrt, während der ich hauptsächlich geschlafen habe, und einmal umsteigen in Bordeaux, komme ich endlich in Bayonne an. Hier soll ich in einen anderen Zug umsteigen, jedoch ist wieder keine Verbindung ausgeschrieben. Als ich den Bahnsteig verlasse, um in der Ankunftshalle nachzufragen, sitzen dort bereits viele nach Pilgern aussehende Menschen in Funktionskleidung mit großen Rucksäcken und Wanderstöcken. „Ach Herrje, was machen die denn alle hier?“, denke ich bestürzt, und hoffte inständig, dass ich beim Laufen trotzdem Zeit für mich haben würde. Schnell informiert eine ältere Pilgerin eine asiatische Pilgergruppe darüber, dass die Reise nach St. Jean Pied-de-Port mit Bus weitergehen würde. „Super“, schießt es mir in den Kopf, „dann kann ich mich ja jetzt entspannen.“ Ich beobachte die anderen Pilger und bin enttäuscht, dass wir so viele sind. Auf einmal komme ich mir sehr mainstream vor obwohl zu Hause alle so ehrfürchtig vor meinem Vorhaben waren. Ich bin müde und habe keine Lust hier irgendjemanden kennenzulernen, ich will nicht wissen, wie viel sie für den Weg trainiert haben oder wie teuer ihre Wanderschuhe waren. Ich möchte auch eigentlich nicht sehen, dass jeder hier einen kleineren Rucksack hat als ich und, dass ich hier die Jüngste zu sein scheine. Das alles verunsichert mich sehr, was nicht besonders hilfreich ist, da ich sowieso große Angst habe zu scheitern. In meinem Kopf beginnt ein Streit der Stimmen.

-„Warum bist du so unsicher? Das ist doch kein Rennen! Du verbaust dir mit deiner Angst jetzt schon alles…“
– „Ja aber hast du dir die Leute hier mal angeguckt? Die sind super sportlich und scheinen Ahnung zu haben. Die Erste Etappe soll so schlimm sein. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ich das schaffen kann!“
– „Da hast du Recht, mit so einer Einstellung schaffst du das sicher nicht… Entspann dich einfach, du hast doch keinen Zeitdruck und wenn du als letzte ins Ziel kommst, darauf kommt es doch nicht an. Und noch was: Hör auf dich zu vergleichen, das bringt überhaupt nichts!“
– „So wie du das sagst, klingt das sehr plausibel. Vielleicht sind ja die anderen hier auch gar nicht so schlimme Menschen. Und wenn ich daran glaube, kann ich es bestimmt auch schaffen, ich will das alles hier schon zu lange machen, um jetzt zu kneifen.“
– „Na siehst du! Das ist die richtige Einstellung. Du brauchst keine Angst vorm Laufen zu haben. Du musst nur einen Schritt vor den anderen setzen.“

Der Bus kommt und ich bin froh, dass der Konflikt in meinem Kopf erstmal unterbrochen wird. Wieder schiebe ich alles Negative beiseite und versuche positiv zu sein. Verdrängung funktioniert gut. Da ich noch auf Toilette gehe, bin ich die letzte, die ihr Gepäck unten im Bus verstaut. Neben mir steht ein junger Mann und sagt erstaunt:

„Wow, das ist ein großer Rucksack für eine so kleine Person.“
„Ja ich weiß, aber ich habe ihn mir zu meinem 15. Geburtstag gewünscht, als ich wusste, dass ich irgendwann den Jakobsweg pilgern gehen möchte. Deshalb wäre ich mit keinem anderen Rucksack angereist. Quentin war mir schon auf vielen Reisen ein treuer Begleiter.“
„Tja, dann scheint ihr ja ein gutes Team zu sein. Ich hoffe ich kann das auch bald von mir und meinem Rucksack behaupten. Erstaunlich, dass du so früh wusstest, dass du diesen Weg laufen willst, du bist doch immer noch sehr jung oder?“
„Ich bin 19.“
„Wow und ich dachte ich wäre mit meinen 23 Jahren der jüngste hier. Respekt wirklich.“
„Danke, ich bin übrigens Theresa aus Deutschland.“
„Ich bin Andrew aus Kanada, freut mich dich kennenzulernen Theresa. Und dich Quentin natürlich auch!“

Während der Busfahrt unterhalten wir uns über unsere Beweggründe den Camino de Santiago zu laufen und über Vieles mehr. Ich bin sehr angenehm überrascht, wie gut Andrew und ich uns verstehen und freue mich, dass der Jakobsweg bzw. der Camino, wie ihn später alle Nationalitäten nennen sollten, mir bereits vor meiner Ankunft eine nette Bekanntschaft geschenkt hat.

In St. Jean Pied-de-Port angekommen, es ist bereits 23.30 Uhr, werden alle Pilger einmal mitten im Nirgendwo aus dem Bus geworfen. Zum Glück bin ich nicht die Einzige, die im Dunkeln verwirrt vor dem Stadtplan steht und rätselt, wie sie zu ihrem Hostel kommt. Andrew und ich beschließen einfach der Hauptstraße zu folgen und schon bald winkt uns ein anderer Pilger den Weg zum Pilgerbüro einen kleinen Hügel hinauf. Andrew läuft sehr schnell und ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich schon aus der Puste bin. „Großartig“, schlägt die zweifelnde Stimme wieder zu. Nach einem ermahnenden Blick meinerseits schweigt sie jedoch.
Im Büro werden wir mit einer für die Uhrzeit unüblichen Wachheit und Freundlichkeit empfangen, sodass wir uns gleich sehr wohl fühlen. Während Andrew sich nach einem Hostel erkundet, wird mein Rucksack gewogen, der mit 12 kg, wie erwartet, viel zu schwer für mich ist. Trotzdem wird mir von den freiwilligen Helfern des Büros Mut gemacht, daran würde es schon nicht scheitern. Andrew wird mein Hostel empfohlen und so machen wir uns auf den Weg. Wir gehen die Straße hinunter und sehen das Schild „Gîte Le Chemin Vers L’Etoile“, welches unsere Herberge kennzeichnet.

Wir treten müde ein und am Empfang werde ich schon mit „Ah Theresa, schön, dass du es geschafft hast“, begrüßt. Die Stimme gehört zu Eric, unserem Herbergsvater, mit dem ich von Toulouse aus bereits telefoniert hatte, als ich dachte, dass sich die Anreise um einen Tag nach hinten verschiebt. Ich schätze Eric auf Mitte 40. Er ist groß , hat schwarz graues Haar und ein freundliches Gesicht mit einer runden Brille auf der Nase. Sein Lächeln ist ansteckend, genau wie seine humorvolle Art. Er spricht perfektes Englisch, auch wenn sein französischer Akzent manchmal unter der Oberfläche hervorscheint. Er war selbst Pilger auf dem Jakobsweg und hat sein Leben nachdem er diesen beendet hatte, radikal verändert. Seinen Wohnsitz in Paris und seinen gut bezahlten Job hat er aufgegeben, um die Herberge in St.Jean-Pied de Port zu eröffnen, welche er mit Herzblut saniert und renoviert hat, da das Gebäude aus dem 15. Jahrhundert stammt. „Was für eine Geschichte“, denke ich mir, während Eric weitererzählt und beginnt vom Camino zu schwärmen. Andrew und ich sitzen gebannt nebeneinander und hören aufmerksam zu, um ja nichts zu verpassen.

„Der Camino ist magisch. Es geht nicht darum als Erster im Ziel zu sein. Der Camino ist kein Rennen, er ist eine Reise. Es geht bei dieser Reise nicht darum in Santiago de Compostella anzukommen, es geht um euch selbst, um eine Reise zu eurem Innersten und es geht darum, dass wir alle in Gott verbunden sind. Der Camino wird euch von innen zum Leuchten bringen und ihr werdet wissen, was ihr an euch habt. Ihr werdet wissen, was eure Stärken und Schwächen sind und euch wird bewusst werden, dass ihr einzigartig seid. Diese Einzigartigkeit zu erkennen, zu akzeptieren und zu lieben, darum geht es auf dieser Reise, das ist der Schlüssel.“

Ich unterdrücke eine Träne, die sich beinahe ihren Weg nach draußen gebahnt hätte. Erics Worte dringen durch mein Äußeres ein, bis tief in meine Seele und treffen mich direkt in mein Herz. Ich spüre sie warm und schön in meiner Brust und merke, dass ein Funken in mir entfacht wurde. Sein Glimmen ist nur zart und kaum zu sehen, aber es ist da…

Theresa

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. Hi theresa….du schreibst echt toll….hammer….und Respekt !!! Ich habe vor ca.3 Wochen versucht den Küstenweg ohne Kohle, von Irun aus zu laufen.Leider hab ich das ganze doch sehr unterschätzt….mit meinem riesen rucksack plus zelt plus meiner gitarre, mit der ich unterwegs Strassenmusik machen wollte…ohne genügend Wasser….nix zu essen…und dann istnauch noch mein Zelt abgesoffen….alles war nass….schlafsack, Klamotten…und auch meine Schuhe, die ich gebraucht von einem Freund bekommen hatte, waren überhaupt nicht wasserdicht….ich habe sie dann im Hostel gelassen… weil sie auch nach 2 Tagen noch nicht trocken waren….kurz….ich habe aufgegeben…nach nur vier Tagen in den Pyrenäen …bin grandios gescheitert….wünsxhe dir trotzdem einen buen camino…love and peace

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    1. Reslila sagt:

      Hallo! Vielen Dank für die lieben Worte! Ich habe bereits gehört, dass der Küstenweg super hart sein soll, also allergrößten Respekt, dass du dich da rangetraut hast. Es verläuft leider ja nicht immer alles nach Plan, es tut mir leid, dass dir sowohl das Wetter als auch die Umstände generell einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Zelten ist natürlich nochmal eine ganz eigene Herausforderung. Vielleicht versuchst du es irgendwann nochmal, wenn es dein Wunsch ist, dann gib nicht auf! Ich bin tatsächlich schon wieder einige Wochen zurück von meiner Reise und schreibe hier nun nach und nach erzählerisch meine Erlebnisse auf. Richtig cool, dass du eine Gitarre getragen hast, wenn auch nur für kurz. Ich selbst hatte eine Ukulele als meinen stetigen Wegbegleiter 🙂 Ich finde nicht, dass du gescheitert bist. Garantiert hast du bereits in den wenigen Tagen sehr viel erlebt und gelernt. Ich hoffe du kannst deinen Trip irgendwie nachholen.

      Buen Camino und liebe Grüße
      Theresa 🙂

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